Semra Ertan
Hamburg

Meine liebe Schwester Semra, 37 Jahre sind vergangen, Du warst 25 Jahre alt, als Du Deinen kleinen zarten Körper verbranntes aus Verzweiflung und Protest gegen den alltäglichen Rassismus. Aber Du hast uns nicht für immer verlassen. Mehr als 350 Gedichte von Dir sind geblieben und werden heute wieder gelesen. Gedichte über Deinen Widerstand, Deinen Zorn, Deine Freude am Leben und - eines Deiner schönsten Gedichte - ein Gedicht über die Liebe.

Begegnung

Woher könnte ich denn wissen, dass du mich liebst,
Wenn deine Augen nicht sprechen würden?
Wie könnte ich denn sowas denken?
Bis gestern lief ich allein durch die Straßen,
Und heute laufe ich Hand in Hand mit dir zusammen
Und liege in der Kneipe in deinen Armen,
Vom gleichen Glas werden wir Liebe genießen
Und zusammen glücklich sein,
Mit manchen Nächten ohne Morgen,
Woher könnte ich denn wissen,
Dass ein Feuer entflammt,
Wenn deine Hände nicht meine Hände berührt hätten?
Wenn ich nicht hören würde, wie dein Herz schlägt,
Könnte ich dich so sehr lieben?
Könnte ich solche Sehnsucht nach dir haben?
Der ganze Körper wie eine Flamme,
Wo sind die vergangenen Jahre?
Ich habe gestern begonnen zu leben,
Das, was ich bin, habe ich erst jetzt erfahren,
Schön ist, dass dein Mund gesagt hat, wie ich heiße,
Schön ist, dass ich nicht mehr so weit weg bin,
Schön ist, dass ich dich gesehen und geliebt habe,
Schön ist, dass ich geliebt wurde, wie man es sich erträumt.
Wer weiß, unter der Erde könnte ich mich wie ein Fluss verlieren,
Wenn du mich nicht finden würdest
Und ich dieses Gedicht nicht schreibe.

Liebe Semra, Du warst eine Einzelkämpferin, der Rassismus ist seither nicht weniger geworden. Aber heute sind wir eine starke Gemeinschaft. Und Deine Gedanken, Deine Gedichte helfen, unser Bewusstsein dafür zu schärfen, wo wir stehen, wogegen Widerstand Not tut und wo wir Verbündete finden. Heute wärest Du nicht so grausam allein wie damals. Mit Deinen Gedichten bist Du ein wertvoller Teil unseres Kampfes für ein besseres, ein menschenfreundliches Deutschland geworden. Vor Deiner mutigen Tat hast Du an den NDR und das ZDF geschrieben: Ich möchte, dass Ausländer nicht nur das Recht haben, wie Menschen zu leben, sondern auch das Recht haben, wie Menschen behandelt zu werden.

Du bist nicht gestorben, Du und die vielen Opfer des Rassismus, Ramazan Avcı, Yeliz, Ayşe - und all die anderen, sie leben weiter in uns, sie werden nicht vergessen, ihre Namen nicht ausgelöscht. Sie und wie Sterne, die uns den Weg zeigen. Eines Deiner Gedichte hat Eingang gefunden in Schulbücher und andere Veröffentlichungen. Es ist - Du bist - Teil unserer Geschichte, unseres kollektiven Bewusstseins geworden.

Mein Name ist Ausländer.
Ich arbeite hier
Ich weiß wie ich arbeite
Die Deutschen wissen es auch
Meine Arbeit ist schwer
Meine Arbeit ist schmutzig
Das gefällt mir nicht, sage ich
„Wenn dir die Arbeit nicht gefällt,
geh in deine Heimat“ sagen sie
Meine Arbeit ist schwer
Meine Arbeit ist schmutzig
Mein Lohn ist niedrig
Auch ich zahle Steuern sage ich
Ich werde es immer wieder sagen,
Wenn ich immer wieder hören muss
„Suche dir eine andere Arbeit“
Aber die Schuld liegt nicht bei den Deutschen
Liegt nicht bei den Türken
Die Türkei braucht Devisen
Deutschland Arbeitskräfte
Die Türkei hat uns nach Europa geschickt
Wie Stiefkinder
Wie unbrauchbare Menschen
Aber dennoch braucht sie Devisen
Braucht sie Ruhe
Mein Land hat mich ins Ausland geschickt
Mein Name ist Ausländer

Meine liebe Schwester Semra, wegen Dir habe ich die Naturwissenschaft verlassen und bin Therapeutin geworden. Und meine Tochter, 1986 geboren, habe ich Deinen Namen gegeben. Mit Filmen und Texten über Dich ist sie Deine starke Verbündete geworden.

Map data ©2023 GeoBasis-DE/BKG (©2009)

Ich will, dass die Menschen sich lieben und akzeptieren. Und ich will, dass sie über meinen Tod nachdenken. (Semra Ertan 1982)

Semra Ertan war politisch aktiv. Sie demonstrierte unter anderem gegen die NPD -Tarnorganisation „Hamburger Liste für Ausländerstopp“, die 1982 zur Bürgerschaftswahl antrat. Sie kämpfte gegen Rassismus und gegen Stigmatisierung, für die Gleichberechtigung der Geschlechter. Unentgeltlich dolmetschte sie für ihre Landsleute bei Behördengängen.

Sie war 17, als sie intensiv zu schreiben begann. In über 350 Gedichten und Satiren schilderte sie ihr Leben und ihre Erfahrungen in Deutschland. Es geht um Leid, Wut, um Liebe, Hoffnung und Freundschaft, gesellschaftliche Gleichberechtigung, Mut zum Widerstand und ein menschliches Mit– und Füreinander.

Im Dezember 2020 wurde ein Teil ihrer Gedichte als Buch veröffentlicht. Es trägt den Titel SEMRA ERTAN „Mein Name ist Ausländer / Benim Adım Yabancı“ und wurde 2021 mit dem Alfred-Döblin-Preis ausgezeichnet.

Am 24. Mai 1982 verbrannte sich Semra Ertan mit 25 Jahren an der Straßenkreuzung in Simon-von-Utrecht-Straße/Detlev-Bremer-Straße (St. Pauli, Hamburg) aus Protest gegen den grassierenden Rassismus, um die Öffentlichkeit aufzurütteln.

Warum schreibe ich, will ich schreiben?
Für wen das alles?
Alles in Kauf nehmend,
Auf alle Fälle schreiben,
Was ist es, was ich will?
Woher das Zappeln, das Drängen…
Versucht endlich, es zu verstehen…
Es ist an der Zeit.
Setzt dem Schweigen ein Ende…
Schaut in dieses saftig grüne Tal und
Auf die in die Wolken reichenden Berge…
Dieses tosende Meer und der kristallklare Bach,
Was wollen sie uns sagen?
Versucht doch endlich, es zu verstehen.
Es ist an der Zeit.
Setzt dem Schweigen ein Ende…
Es muss aufhören, es muss aufhören.

SEMRA ERTAN, KIEL, 8. FEBRUAR 1977

Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist. (aus dem Talmud)

Aber Gedenken braucht auch einen Ort, an den die Angehörigen, Freund*innen und solidarische Menschen kommen können, um zu trauern. Einen Ort, der allen, die ihn besuchen oder passieren, in Erinnerung ruft, dass Rassismus in Deutschland eine lange Tradition hat, aber auch der Widerstand dagegen.

Einen Ort, der signalisiert, dass Semra Ertan, dass ihre Geschichte ein Teil von Hamburg ist. Wir müssen erinnern, um uns der tödlichen Folgen von Rassismus immer bewusst zu sein.

Daher fordern wir, dass Semra Ertan auch im Stadtbild präsent ist.

Initiative in Gedenken an Semra Ertan https://semraertaninitiative.wordpress.com/