Ümit Satır
Duisburg

Ich heiße Aynur Satır.

1984 war ich damals 13 Jahre alt. Am 26. August wurde meine Familie durch einen rassistischen Brandanschlag ausgelöscht.

Meine Mama Ferdane wäre heute 78 Jahre alt. Mein Bruder Ümit wäre heute 44 Jahre alt. Meine Schwester Çiğdem wäre heute 46 Jahre alt. Meine Schwester Songül wäre heute 43 Jahre alt. Meine Schwester Zeliha und ihr Mann Rasim wären heute 57 Jahre alt. Deren Sohn, mein Neffe Tarık, wäre jetzt 39 Jahre alt.

Ich habe meine Lieben verloren. In mir steckt Schmerz, Wut, Enttäuschung. Und ich wurde von Behörden und der Stadt allein gelassen.

Map data ©2023 GeoBasis-DE/BKG (©2009)

Durch einen Zufall erfuhren die heutigen Initiativenmitglieder über den Brandanschlag in Duisburg und führten daraufhin tiefergehende Recherchen durch. Bei diesen tauchten sehr viele Ungereimtheiten, Hinweise auf Rassismus, eine fehlende Aufklärung und Aufarbeitung auf, woraufhin sich schließlich Ende 2018 die Initiative Duisburg 1984 gründete.

Im August 1984 ereignete sich ein rassistischer Brandanschlag in einem migrantischen Viertel Duisburgs. Das Ziel war ein Wohnhaus, in dem ausschließlich Migrantinnen aus der Türkei und dem ehemaligem Jugoslawien wohnten. Das Haus wurde in den 1980ern abwertend als „Türkenhaus“ bezeichnet. In der Nacht vom 26. auf den 27. August kamen sieben Mitglieder der Familien Satır und Turhan dort bei einem Brandanschlag ums Leben. Viele weitere Familienmitglieder sowie weitere Bewohnerinnen wurden zum Teil schwer verletzt. Zwei Mitglieder der Familie Satır konnten sich nur durch einen Sprung vom zweiten Obergeschoss das Leben retten, Aynur und Rukiye Satır. Das Leben veränderte sich von einem Tag auf den anderen und bis heute bestimmt dieser Anschlag das Leben der Überlebenden und Angehörigen.

Hinweise, die bei dem Brandanschlag auf Rassismus deuteten, wurden bei den Ermittlungen und im späteren Gerichtsprozess außer Acht gelassen. Mutmaßliche Täterinnen im Umkreis der Bewohnerinnen zu suchen, wurde jedoch nicht versäumt. Ein jugoslawischer Bewohner des Hauses wurde ohne Beweise beschuldigt und musste mehrere Monate im Untersuchungshaft verbringen. Duisburg 1984 wurde nach kurzer Zeit vergessen, vergessen gemacht. 1994 wurde in Duisburg eine Unterkunft für Asylbewerber*innen angezündet. Bei den Ermittlungen zu diesem Fall wurde fast 10 Jahre später eine Frau festgenommen, die gestand auch den Brand 1984 gelegt zu haben. Sowohl 1984 als auch 1994 wurde es versäumt einem politischen Motiv auf den Grund zu gehen. Die Täterin wurde als Pyromanin in einer Einrichtung für psychisch kranke Menschen eingewiesen.

Während die benachbarte deutsche Familie, die in der Brandnacht 1984 Hilfe leiste, dafür vom damaligen Bürgermeister und NRW-Ministerpräsidenten Johannes Rau gelobt und gewürdigt wurde – was absolut richtig war – wurden die Überlebenden und Hinterbliebenen nicht einmal gefragt, wie es ihnen geht und ob sie etwas benötigen. Diese bezeichnende Ignoranz bereits am ersten Tag nach dem Brandanschlag wurde für die Familien in den Folgejahrzehnten eine Lebensrealität. Die Opfer-Familien wurden ihrem Schicksal überlassen. Die Überlebenden und Angehörigen waren 35 Jahre mit ihren körperlichen und psychischen Schmerzen, Überlebenskämpfen sowie Ängsten allein – ihnen wurde weder zugehört noch geglaubt oder geholfen. Die betroffenen Familienmitglieder sind überzeugt davon, dass es ein rassistischer Anschlag war, und trauen sich das heute laut auszusprechen.

Die Überlebenden und Angehörigen haben nach fast vier Jahrzehnten viele unbeantwortete Fragen:

  • Warum war die Feuerwehr einen Tag vor dem Brandanschlag an der Wanheimer Str. 301?
  • Warum war die Feuerwehr in der Brandnacht zu spät vor Ort?
  • Warum wurde dem Hakenkreuz an der Hausfassade nicht nachgegangen?
  • Warum wurden die rassistischen Anrufe nach dem Brandanschlag, die bei der benachbarten Familie (die in der Tatnacht Hilfe leistete) eingingen, ignoriert?
  • Warum hat sich der Verfassungsschutz Ende der 1980er Jahre für den Fall interessiert?
  • Warum war vor allem die Tatsache, dass die mutmaßliche Täterin zwei Brände in Häusern von Eingewanderten legte (1984 und 1994 in einer Asylbewerberunterkunft), kein Anlass für umfassende Ermittlungen nach einem politischen Motiv?
  • Warum wurde die Familie nach dem Geschehen nicht unterstützt und allein gelassen?

Eine erste würdige Erinnerung an die Opfer fand erst 35 Jahre nach der Tat statt. Knapp 9 Monate zuvor hatte sich die Initiative 1984 gegründet. Die Jahrzehnte des Schweigens hatten somit ein Ende. Seitdem organisieren die Betroffenen gemeinsam mit der Initiative Gedenken, Veranstaltungen und versuchen durch unterschiedliche Formate wie Film, Podcast, Publikationen, Ausstellungen, Webdokumentation auf Duisburg 1984 aufmerksam zu machen und auf Rassismus sowie Antisemitismus in der Gesellschaft zu sensibilisieren. Eine wichtige Säule unserer Arbeit ist die Vernetzung, sowohl auf NRW-Ebene als auch bundesweit. Wir beteiligen uns an einer einzigartigen Netzwerkarbeit gemeinsam mit anderen Überlebenden und betroffenen Angehörigen sowie Initiativen, die mit ihnen aktive Arbeit leisten. Wir nehmen an Vernetzungstreffen teil, arbeiten an einem gemeinsamen Forderungskatalog, organisieren Veranstaltungen und Projekte, vor allem empowern sowie unterstützen wir uns gegenseitig.

Eine politische Anerkennung des Erlebten in der Stadt Duisburg und bundesweit ist sehr wichtig. Wir möchten eine würdevolle Gedenkkultur in Duisburg verankern und erreichen, dass rassismuskritische Diskurse nicht nur an Jahrestagen thematisiert werden. Rassismus, Antisemitismus und damit verbundene Gewalttaten sind bittere Realitäten für Millionen Menschen in Deutschland. Erst durch aufrichtiges Zuhören der Betroffenenperspektiven ist eine richtige Auseinandersetzung und Aufarbeitung möglich. Als ersten Schritt der Anerkennung wird dieses Jahr (2023) eine Gedenktafel an das ehemalige Wohnhaus der Familien angebracht. Diese Gedenktafel soll an die Opfer des rassistischen Brandanschlags Ferdane, Çiğdem, Ümit und Songül Satır sowie Zeliha, Rasim und Tarık Turhan erinnern und mahnend in die Zukunft wirken. Die Überlebenden und Angehörigen wünschen sich außerdem Straßen- bzw. Platzumbenennungen, ein Mahnmal, damit eine konstante Sichtbarkeit und somit Auseinandersetzung mit dem Thema in der Stadt stattfindet und Duisburg 1984 nicht erneut in Vergessenheit gerät.

Initiative Duisburg 1984 https://www.inidu84.de/