Yeliz Arslan
Mölln

Kampf

In stiller Nacht, allein im Dunkeln,
Begleiten uns Gedanken an das Unrecht,
Das jene erlitten, die anders sind als wir,
Opfer des Hasses, Opfer der Gleichgültigkeit.

Gedanken an jene, die verletzt wurden,
An jene, die gestorben sind, ohne Vergebung zu erhalten,
An jene, die weiterleben und doch ihre Narben tragen,
Die Schmerz und Trauer in ihren Herzen tragen.

Doch in diesen Gedanken finden wir auch Stärke,
Denn wir wissen, dass es mehr gibt als den Hass,
Dass es Liebe und Mitgefühl gibt,
Dass wir zusammenstehen können gegen das Unrecht.

Wir denken an jene, die sich erheben und kämpfen,
Die ihre Stimme erheben und sich nicht beugen,
Die für die Freiheit aller eintreten,
Die für die Gleichheit und Gerechtigkeit kämpfen.


Die mit dem November gehen

Zu kalt für Schnee
Und zu heiß, um die Flammen zu löschen, bist du, November.

An einem Septembertag öffnete ich meine Augen in den Armen meiner Mutter
In einer Novembernacht schloss ich sie, mitten im Brand

Erstes Kind meiner Mutter und meines Vaters
Erste Enkelin des Hauses, Erste von so Vielem,

Ich heiße Yeliz, und das heißt aufklärend, erhellend, ein frischer Wind

denn alle erhofften eine helle, frische Zukunft wie meine Mutter und mein Vater für mich.

Der November ist kalt und die letzten Blätter fallen von den Bäumen
An jenem Tag waren es drei.

Am 23. November 1992
in einer kalten, finstren Nacht
IHR WERDET ABER NICHT VERGESSEN

Meine Großmutter kam mit nur einem Koffer in die Fremde und kehrte in die Heimat zurück
mit drei Särgen
Ich hatte Träume
Wir alle hatten Träume
Ich hatte Freude
Wir alle hatten Freude
Wir hatten Hoffnungen, die gingen mit dem
November fort
Aber vergesst nicht: Am Ende jedes Winters
kommt ein Frühling
Wir werden uns eines Tages sicher sehen


Die Hinterbliebenen

wenn euch jemand fragt
wie war eure Kindheit
was fällt euch dann ein?

Es müsste ja Schönes sein
aber am 23. November 1992
wurde für drei Kinder

alles anders
Emrah
Namık
und Ibrahim Arslan

Ein siebenjähriges Kind
Stundenlang inmitten der Flammen
vergessen
in einer Ecke in der Küche
von der Großmutter in eine Decke gewickelt
ihr verdankt er sein Überleben
als Kind von sieben Jahren

Wenn aber jemand einem Menschen das Leben bewahrt,
so ist’s, als würde er das Leben aller Menschen bewahren.
(Kur’an: Sure Der Tisch, Vers 32, Übersetzung Hartmut Bobzin)

Ihr eigenes Leben achtete
die Großmutter in jener schrecklichen Nacht gering
das des Siebenjährigen aber
rettete sie
voller Angst
klammerte es sich an den Tisch
und wurde Stunden später gefunden,
immer noch nass.

Was erlebte dieses Kind in jener Nacht?
Konnte es die Flammen
den Rauch und
die Schreie je
vergessen?

Seine Kindheit verlor es in jener Nacht
und nicht nur die
die Schwester
die Großmutter
und die Cousine

und vielleicht auch
die Hoffnung und das Vertrauen
in den Menschen.

Sieben Jahre,
sieben
als es erfuhr
dass seine Schwester nie wieder kommen würde
um auf den Spielplatz zu gehen.

Dieses siebenjährige Kind
vermisst
seit zehntausend.neunhundert.siebenundfünzig Tagen
Schwester
Cousine
und Großmutter

begegnet dennoch den Menschen mit Liebe
kämpft mit dem Leben
ohne Hass zu empfinden oder Rachsucht

Die Feigen rennen weg
die Mutigen hingegen
schlagen sich lebenslang
mit ihrem eigenen Herzen.

Das siebenjährige Kind
ist in der Seele ein Kämpfer,
immer noch,
und solang dieser Geist ihm bleibt
kann nichts es hindern.

Ich wünsche mir,
dass anderen Kindern auf dieser Welt
nicht die Kindheit
die Hoffnung, die Freude
genommen wird.

Religion, Sprache, Herkunft, Hautfarbe,
mögen die Menschen
die Kinder
voneinander nicht trennen.

Map data ©2023 GeoBasis-DE/BKG (©2009)
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Die Erinnerung zu erkämpfen – an die, die fehlen, an das Geschehene, an das Vergessene, an das Verschwiegene, an die Ursachen und die Folgen, an das Davor und das Danach. Diese Forderungen sind nach wie vor aktuell. Dieses Erkämpfen ist nach wie vor wichtig. Diese Erinnerung ist nach wie vor kostbar.

anıları canlı tutma mücadelesi ~ reclaim and remember ~ das erinnern erkämpfen

Was bedeutet es, zu gedenken? Was bedeutet Solidarität? Was bedeutet es, solidarisch zu gedenken? Was bedeutet es, die Betroffenenperspektive in den Vordergrund zu rücken? Wie sehen selbstgestaltete, selbstbestimmte, sichtbare, solidarische und empowernde Gedenkpraxen aus? Diese Auseinandersetzungen führen die Familien Arslan und Yılmaz seit 30 Jahren.

HINTERGRUND

Das Haus der Familie Arslan wurde am 23.11.1992 von neofaschistischen Tätern mit Molotow-Cocktails angezündet. Bei dem Anschlag wurden die 10jährige Yeliz Arslan, die 14jährige Ayşe Yılmaz und die 51jährige Bahide Arslan ermordet. Weitere Familienmitglieder wurden teilweise sehr schwer verletzt. Zuvor hatten die Neonazis bereits einen Brandanschlag auf die Ratzeburger Straße 13 verübt, wo ebenfalls Menschen türkischer Herkunft wohnten. Neun von ihnen erlitten schwere Verletzungen.

Die Angehörigen und Überlebenden des Anschlags setzen sich seit 30 Jahren für ein selbstbestimmtes Gedenken von Betroffenen und Überlebenden rechter Gewalt ein. Sie gestalten die Möllner Rede im Exil und den Gedenktag am 23. November, sie unterstützen andere Betroffene rechter Gewalt in ihrem selbstgewählten Gedenken, sie organisieren Bildungsveranstaltungen und Zeitzeug*innengespräche und sie erzählen ihre Geschichten. Und darin sind sie nicht alleine. Betroffene rechter Gewalt rücken ihre Perspektiven in ihren Vielstimmigkeiten in den Vordergrund. Sie richten den Blick auf die, die wir verloren haben und die, die verletzt wurden. Sie vernetzen sich und schaffen vielfältige Orte der Verbundenheit in unseren Verletzlichkeiten. Auch der Gedenktag und die Möllner Rede im Exil sollen solche Orte der Verbundenheit sein.

Im Exil war die Rede bisher in Hamburg, Lüneburg, Bremen, Köln, Berlin, Frankfurt am Main und Kiel zu Gast. Gehalten haben sie Kutlu Yurtseven, Adetoun Küppers-Adebisi, Argyris Sfountouris, Doğan Akhanlı, Esther Bejarano, İdil Baydar, Newroz Duman und Naomi Henkel-Gümbel und der Freundeskreis United. „Im Exil“ ist die Rede, weil sie seit 2013 nicht mehr Teil des „offiziellen“ Gedenkens der Stadt Mölln ist.

Gedenkpolitik ist für uns gelebte Gesellschaftskritik. Solidarität bedeutet für uns, die dringenden Fragen nach Gerechtigkeit, nach ausgegrenzten Geschichten und nach der Gewalt unserer gegenwärtigen Gesellschaft zu stellen. Solidarität bedeutet für uns, Antworten, Fragen und Forderungen aus der Betroffenenperspektive zum Ausgangspunkt solidarischen Handelns zu machen. Solidarität bedeutet für uns, sich mit Überlebenden und Betroffenen dieser Gewalt zu verbünden.

Es gibt viele Erfahrungen und Geschichten. Viele Verletzungen. Viele Wünsche und Bedürfnisse. Viele Perspektiven. Diese gilt es zu hören. Aus der Vereinzelung zusammenzubringen. Zu vernetzen. Zu vervielfältigen. In den Vordergrund zu stellen. Und so Gedenkpolitiken herauszufordern. Als Kollektiv in der Vielfalt.

Der „Freundeskreis im Gedenken an die rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992“ besteht aus Mitgliedern und Freund*innen der Familie Arslan und verbundenen Personen aus anderen Gedenkinitiativen.

„WIR WERDEN IMMER WIEDER DA SEIN“

Freundeskreis im Gedenken an die rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992
https://gedenkenmoelln1992.wordpress.com/