Can Leyla
München

Mein lieber Sohn Can.

Mein Leben ist seit sechs Jahren ohne dich. Ich vermisse dich. Ich suche dich. Aber überall sehe ich nur diese dunkle Leere. Ich spüre diese schwere Last, meinen Schmerz und meine Sehnsucht. Ich finde keine Erlösung.

Wie sehr vermisse ich unsere gemeinsame Zeit. Ich suche Trost in meinen Erinnerungen und ich könnte dir stundenlang erzählen, wie du mein Leben mit Schönheit erfüllt hast.

Jetzt bin ich ohne dich.

Und ich spüre einen tiefen Schmerz, dass ich meine Liebe nicht mehr mit dir leben kann. Und du, ich nehme an, du bist jetzt an einem schönen Ort, den man das Himmelreich nennt. Dort, wo es keine Verfolgung gibt, wo das Leben von Kindern nicht missachtet wird und es gerecht und gewissenhaft zugeht. Wenigstens hoffe ich es. Daran möchte ich glauben. Dafür strenge ich mich an. Denn mit deinem grausamen Tod, habe ich mit dir auch alle meine Gewissheiten verloren.

Würden wir doch nur den Menschen auf dieser Welt nicht das Klassifizieren, Bewerten und Unterteilen beibringen, sondern stattdessen Empathie. Vielleicht müssten wir dann nicht all das durchleben, was jetzt die Realität ist.

Und diese Realität ist für uns die Hölle. Wir haben in diesen sechs Jahren um Gerechtigkeit gekämpft, uns abgemüht und gequält, aufgeschrien, gegen alle Widerstände, während die Beteiligten an diesem Attentat weiterhin ungestört und ungehindert da draußen ihr Wesen treiben. Weiter aktiv in ihrem Nazi Netzwerk sind. Der Mitschuldige Philip Körber, der dem Attentäter die Tat erst möglich gemacht hat, weil er ihm illegal Waffe und Munition verkauft hat, ist seit einem Jahr vorzeitig aus der Haft und man hat es nicht für geboten gehalten, uns darüber zu informieren.

Es wird gesagt, dass es in diesem Fall zu keinen Ermittlungsfortschritten kam. Dabei war es offensichtlich, dass man die Akte so schnell wie möglich schließen wollte, obwohl es viele Hinweise durch Zeugenaussagen aus dem Nazi-Milieu gab, denen man hätte nachgehen können. Für sie ist der Fall abgeschlossen, aber für mich nicht. Denn wir werden hier als Einwanderer weiter bedroht, wir sind weiter einem tödlichen Rassismus ausgesetzt. Ja, das macht mich nervös. Das beunruhigt mich zutiefst.

Man sagt uns, dass man unsere Gefühle teilt, dass wir die Möglichkeiten der Pseudo-Demokratie nutzen können, aber auch zu gehorchen und uns unterzuordnen haben. Angesichts der Lage heißt das im Grunde, du musst damit leben, dass man Menschen wie dich töten möchte – und wenn es passiert, nimm dein Schicksal hin.

Gehorchen und mich unterordnen soll ich mich auch, wenn es um die Vorbereitung der jährlichen Gedenkveranstaltung geht. Als Angehörige habe ich keinerlei Mitspracherecht darüber, wer sprechen darf und wer nicht. Jedes Jahr stehen wir mit unserem Anliegen vor einer Mauer, mit der sich die Stadt München von uns abgeschirmt. Auch mein rechtlicher Beistand wurde mir von der Stadt verwehrt.

Ich habe in diesen sechs Jahren gelernt, dass es keine Gerechtigkeit und keine Weiterordnung gibt. Das schmerzt mich. Menschen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen, werden geschützt. Eine so große Ungerechtigkeit verletzt mich zutiefst. Dieses System trägt Menschen auf Händen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben. Es ist eine gefährliche Welt, in der unter dem Namen Mensch, eine innerliche Heuchel-Gemeinschaft besteht, die nichts davon hält, gute Menschen zu sein, Gutes für andere zu tun und sie wertzuschätzen. Diese Gemeinschaft schreckt nicht davor zurück, Böses zu tun, und andere Böses tun zu lassen.

Und in dieser Welt gibt es Menschen, die angesichts all dem schweigen und sie glauben desto mehr daran, Recht zu haben, je mehr sie schweigen. Die Ungerechtigkeit in diesem Land zeigt sich darin, dass wir selbst um Gerechtigkeit kämpfen müssen. Und wenn wir nicht darum kämpfen, und es in den Händen der Polizei und Politik geben, befürchte ich, dass es immer wieder zu unermesslichem Leid kommen wird. Ich habe keinerlei Vertrauen mehr in die Justiz und Staatsgewalt.

Die deutsche Justiz ist angesichts der rechten Terroranschläge gescheitert. Die Gesetz mit den Füßen getreten und danach gänzlich ad acta gelegt. Lieber vertraue ich Menschen, die ihren Augen nicht verschließen und sich durch ihre Gewissen und Gefühl für Fairness solidarisch zeigen. Die sich für ein gerechtes und menschenwürdiges Zusammenleben in die Gesellschaft einsetzen und die Ungerechtigkeiten nicht hinnehmen und nicht schweigen werden. Ich habe von Mitmenschen so viel echte Anteilnahme erfahren und die Kraft tiefer Begegnungen gespürt, dass mich das wieder hoffen und glauben lässt.

Und ich möchte besonders den jungen Menschen raten, diese Welt gehört euch. Gebt eure Zukunft, eure Träume, eure Hoffnung, nicht in diese schmutzige Hände.

So lange ich alle hier sehe, gebe ich meine Hoffnung nicht auf.

Mein lieber Sohn Can. Du wurdest durch Kugeln getötet und wir werden nicht aufhören, bis alle, die daran mitgewirkt haben, zur Verantwortung gezogen werden. Wir werden nicht schweigen und nicht vergessen lassen. Solange Menschen ermordet werden, werden wir nicht aufhören, darauf hinzuweisen, dass es dort Grausamkeiten gibt.

Aber du, Ruhe in Frieden.

Map data ©2023 GeoBasis-DE/BKG (©2009)
Map data ©2023 GeoBasis-DE/BKG (©2009)
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Wir sind eine Initiative von Angehörigen, Überlebenden und Unterstützenden, die den Anschlag am 22.7.2016 am Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) in München in Erinnerung rufen und in Erinnerung behalten will. Die Namen der neun Opfer dürfen nicht vergessen werden. Es darf nicht weiter verschwiegen werden, dass es sich bei der Tat um rechten Terror, antimuslimischen Rassismus und Antiziganismus gehandelt hat.

Dafür wollen und werden wir gemeinsam kämpfen.

Wir wollen dazu beitragen, dass die Opfer nicht nur am Jahrestag erinnert werden, sondern dass sie und ihre Geschichten Bestandteil des öffentlichen Bewusstseins sind. Wir wollen, dass die Forderungen der Angehörigen nach einem angemessenen Gedenken und nach einem Raum für Austausch und Aufarbeitung Realität werden. Wir wollen uns gemeinsam gegen Rassismen und rechten Terror stellen. Wir wollen, dass München diesen Anschlag ernst nimmt und Konsequenzen zieht. Wir wollen, dass dieser Anschlag auch bundesweit als rechter Terror anerkannt und benannt wird.

Wir wollen der Menschenverachtung von rechtem Terror und Rassismus eine Praxis der Solidarität entgegensetzen.

OEZ 22.07.2016 München errinern!
https://muenchen-erinnern.de/