Şahin Çalışır
Neuss

Genau vor 28 Jahren, am 27. Dezember 1992 wurde Şahin Çalışır auf der Autobahn 52 bei Meerbusch ungefähr 5 Kilometer entfernt von hier ermordet. Die Täter waren zwei Neonazis und ein rechter Hooligan aus Solingen. Şahin machte zu der Zeit seine Lehre als Schlosser, bei der Firma Thyssen. Ein ruhiger und ehrgeiziger junger Mann, der noch das ganze Leben vor sich hatte. Wir gedenken heute an Şahin vor dem Amtsgericht Neuss, weil dieses Gericht der zweite Tatort ist. Anfang Oktober 1993 fand hier die Gerichtsverhandlung gegen nur einen der drei Täter statt und zwar gegen Klaus Evertz, ein polizeibekannter Hooligan, der den Wagen fuhr. Für uns, die Angehörigen von Şahin, war der ganze Prozess eine Farce. Anfang der 90er war eine Zeit, wo fast jeden Tag rassistische Überfälle, Brandanschläge und Morde passierten. Ungefähr 5 Wochen vor der Ermordung von Şahin hatten Neonazis in Mölln das Haus der Familie Arslan in Brand gesteckt und drei Menschen umgebracht. Im Land herrschte eine Pogromstimmung gegen Türkinnen und Türken und gegen Flüchtlinge. Nur die staatlichen Stellen hatten es nicht mitbekommen, bzw. spielten die drei Affen. Schon vor dem Gerichtssaal wurden wir, die Angehörigen von Şahin mit Schäferhunden durchsucht, während die Täter sich wie zu Hause verhielten. Anscheinend wollte der Staat die Neonazis vor uns schützen.

Noch mehr: als der jüngste des Trios Marco Hansen seine Aussage machte, stand der Kopf der Gruppe Lars Gerhard Schoof mitten im Gerichtsaal und hatte den Hansen fest im Blick, um einen Fehler von ihm zu unterbinden, weil der bei der polizeilichen Vernehmung die Tat eigentlich zugab.

Er war nicht der einzige von den drei Tätern, der die Tat mehr oder weniger gestand. Der Angeklagte des Prozesses Klaus Evertz schrieb über Şahin vom Gefängnis aus „Das mit dem Herumlaufen hat sich für ihn erledigt“. Diese Aussage und der Brief waren dem Gericht bekannt, aber spielten im Prozess keine Rolle. Auch dass Lars Gerhard Schoof, Klaus Evertz kurz nach der Tat bei der Polizei mit dem Satz „bloß den Mund halten“ zum Schweigen brachte, war für das Gericht kein Thema.

Der Staatsanwalt grinste während des ganzen zweiten Verhandlungstages, als ob es hier um einen Schulstreich von pubertierenden Jugendlichen ginge und nicht um den Tod eines 20-jährigen, der aus rassistischen Gründen umgebracht wurde. In seinem Plädoyer sagte der Staatsanwalt, dass es ein unglücklicher Verkehrsunfall war und dass die Jungs - übersetzt die Neonazis - keine Typen seien, die sich ein Auto nehmen und ganz nach dem Motto „jetzt wollen wir Mal sehen, bis ein Ausländer vor dem Kühler läuft“. Mit diesem Staatsanwalt hatten die Täter einen sehr gewichtigen Verteidiger. Er forderte nur für den Fahrer des Autos, einen vorbestraften Hooligan, ein Jahr auf Bewährung. Gegen die anderen beiden wurde nicht mal Anklage erhoben.

So wurde Şahin am 7. Oktober 1993, fast 10 Monate nach seiner Ermordung auf der Autobahn 52 noch einmal getötet. Und zwar hier in diesem Haus. Deshalb ist dieses Gerichtsgebäude ein zweiter Tatort. Diese Haltung des Staates bei rassistischen Morden ermutigte die Täter zu anderen, noch brutaleren Taten.

Am 29. Mai 1993 verübten vier Neonazis einen Brandanschlag auf das Haus von Familie Genç in Solingen. Fünf Menschen starben und 14 wurden zum Teil sehr schwer verletzt. Drei der vier Täter trainierten zusammen mit Lars Gerhard Schoof in der Kampfsportschule Hak-Pao in Solingen unter der Leitung von Bernd Schmitt, der ein V-Mann des Verfassungsschutzes von NRW war.

Şahin wurde vor 28 Jahren getötet. Zum ersten Mal wird heute an ihn öffentlich gedacht. Spät, aber und hoffentlich nicht zu spät für potentielle Opfer rassistischer Gewalt. Andere Verbrechen können nur durch die entschlossene Bekämpfung des Rassismus verhindert werden. Dazu gehört auch das Gedenken an die Opfer, die wie Şahin teilweise von der Öffentlichkeit vergessen wurden. Oder deren hinterhältige Ermordung nicht mal in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. Auf staatliche Stellen können und dürfen wir uns nicht verlassen, hat die Erfahrung uns gelehrt. Sie haben diese Morde nicht verhindert und nichts sagt uns, dass sie es in der Zukunft tun werden.

Nur die Selbstorganisation und die Selbsttätigkeit der potentiellen Opfer, der Anti-Rassistinnen und Anti-Rassisten, der Migrantinnen und Migranten kann rassistische Angriffe und Morde verhindern und uns Sicherheit geben. Ich danke euch für eure Solidarität.

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„Der Gesellschaft muss immer klar gemacht werden, dass es hier ein Problem wie Rassismus gibt. Dass manche Menschen nicht als Gleiche gesehen werden. Also: hinschauen, nicht wegschauen und immer kritisch hinterfragen, was uns vom Mainstream erzählt wird!“ -Orhan Çalışır

Şahin Çalışır war ein ruhiger und ehrgeiziger Mensch, der gerne Sport machte und in einem Duisburger Sportverein trainierte. Er absolvierte eine Ausbildung als Industrieschlosser bei Thyssen. Am frühen Morgen des 27. Dezember 1992 wurde der damals 20-Jährige auf der Autobahn 57 bei Meerbusch getötet. Şahin Çalışır war mit zwei Freunden im Auto unterwegs, als sie von Neonazis aus Solingen aus rassistischen Gründen verfolgt und angegriffen wurden. Ihr Auto wurde gerammt und geriet in die Leitplanken. Şahin Çalışır und seine Freunde flüchteten angsterfüllt aus dem Auto. Sie hatten Angst, weil in den Jahren eine Pogromstimmung gegen Migrant*innen herrschte. Ein vorbeifahrendes Auto erfasste Şahin Çalışır, er überlebte seine Verletzungen nicht. Sein Cousin Orhan Çalışır nahm den Prozess am Amtsgericht in Neuss später als „zweiten Tatort“ wahr. Die rechten und rassistischen Hintergründe wurden nicht beachtet. Eine umfassende Aufklärung des Mordes sowie angemessene Konsequenzen für die Täter bleiben bis heute aus. Orhan Çalışır kämpft dafür, dass Şahin Çalışır nicht vergessen wird!

Text von Stopp. Zuhören. Begegnen.